Entscheidungsarchitektur und Ethik

Die Entscheidungsarchitektur

Choice architec2re

Der zunehmende Einsatz digitaler Technologien in weiten Bereichen unseres privaten und beruflichen Lebens führt dazu, dass Menschen häufig wichtige Entscheidungen innerhalb digitaler Benutzeroberflächen treffen (müssen). Benutzeroberflächen, wie Websites und mobile Apps enthalten oftmals digitale Auswahlumgebungen, die Entscheidungen erfordern oder sogar beeinflussen, indem sie zeigen, wie das System beispielsweise Arbeitsabläufe präsentiert und organisiert (Weinmann et al. 2016).

Dies ist nicht nur im digitalen Kontext so – Menschen stehen jeden Tag nicht nur verschiedenen Entscheidungen, sondern auch diversen Reizen, die die Entscheidungen beeinflussen, gegenüber (Thaler und Sunstein 2008), wodurch sie nicht immer die für sie beste Entscheidung treffen (Thaler und Sunstein 2003). Die sogenannte Entscheidungsarchitektur soll den Menschen dazu verhelfen, ihren wahren Präferenzen bzw. wohl durchdachten Entscheidungen zu folgen, wenn sie in gewissen Kontexten durch Reize oder Verhaltenstendenzen systematisch davon abweichen (Klonschinski und Wündisch 2016). So zeigen Untersuchungen, dass 95% der täglichen Entscheidungen nicht reflektiert ablaufen, sondern automatisch oder „unüberlegt“ (Bargh et al. 2001).

Hierbei stellt die „sprachliche, physische, emotionale wie auch soziale Umwelt, in der Menschen Entscheidungen treffen“ (Fuhrberg 2020, 83) die Entscheidungsarchitektur dar. Sie kann somit als die Gesamtheit von Umgebungsfaktoren beschrieben werden (Buyx 2010).

Kleinste Veränderungen der kontextuellen Einflussfaktoren führen also zu Veränderungen des menschlichen Verhaltens – nicht zu vernachlässigen sei selbst die Architektur von Gebäuden (Buyx 2010, 226). Dies bedeutet auch, dass es keinen “neutralen“ Weg gibt, Wahlmöglichkeiten zu präsentieren und somit die Entscheidungen, wie auch das Verhalten der Nutzer im Zusammenhang mit der Gestaltung von Benutzeroberflächen beeinflusst werden (Mandel und Johnson 2002; Sunstein 2015), und das oft unabhängig von der Absicht der Designer. Folglich kann die Entscheidungsfindung jedoch gleichzeitig auf viele Arten von sogenannten Entscheidungsarchitekten beeinflusst werden. Hierbei wird der jeweilige Entscheidungskontext eines Individuums entsprechend gestaltet (Johnson et al. 2012). Nudging beschreibt in diesem Zusammenhang die gezielte Gestaltung der Entscheidungsarchitektur (Schubert 2017a; Fuhrberg 2020). 

Entscheidungsarchitekten konzipieren, nutzen und evaluieren also Nudges, genauer gesagt versucht der Entscheidungsarchitekt durch die gezielte Gestaltung einer Entscheidungsarchitektur das Individuum zu der von ihm für besser gehaltenen Alternative zu lotsen, ohne dem Betroffenen dabei eine Wahlmöglichkeit vorzuenthalten (Schnellenbach 2015). Nudges stellen hierbei Maßnahmen dar, bei denen die Entscheidungsarchitekten zu einer Verbesserung der gegenwärtigen Situation und gleichzeitig zum langfristigen Wohl der Menschen durch eine Verhaltensbeeinflussung dieser führen sollen. Diese Maßnahmen können von Regierungen, Institutionen sowie Unternehmen genutzt werden (Grüne-Yanoff und Hertwig 2016).

Im digitalen Raum sind Elemente der Entscheidungsarchitektur beispielsweise eine vereinfachte Strukturierung komplexer Eingabemasken, die Voreinstellung häufig gewählter Optionen auf Websites, eine Anzeige der Stärke von ausgewählten Passwörtern, elektronische Verkehrsschilder oder Online-Produktkonfigurationssysteme, die die Auswahl vereinfachen und den Nutzer durch den Kaufprozess führen (Thaler et al. 2010; Weinmann et al. 2016).

Nudges in digitalen Umgebungen können gleichzeitig auch eingesetzt werden, um das Verhalten in der realen Welt zu beeinflussen. Ein Beispiel ist der Fitbit-Aktivitätsmonitor, bei dem digitale Stupser (z.B. Feedback zur Aktivität geben, Erinnern des Benutzers an Bewegung, Statistiken von Freunden präsentieren) eingesetzt werden, um die Menschen dazu zu bewegen, ihr Aktivitätsniveau zu erhöhen.

Digital Nudging wird einen erheblichen Einfluss auf die zukünftige Informationssystemforschung und -praxis haben, insbesondere für designorientierte Informationssystem-Forschung (Weinmann et al. 2016).

 

NICE 2 KNOW

Selbst kleine, unscheinbar scheinende Aspekte können Einfluss darauf haben, wie sich Menschen schlussendlich verhalten, wodurch Thaler und Sunstein in diesem Zuge empfehlen, alle Aspekte, die das Verhalten beeinflussen könnten, als wichtig einzustufen (Thaler und Sunstein 2008).

 

Take Home Message:

  • Entscheidungen werden durch Umgebungsfaktoren maßgeblich beeinflusst
  • Veränderungen des Entscheidungskontextes werden als Nudges beschrieben
  • Entscheidungsarchitekten lenken durch diese Veränderungen das menschliche Verhalten zu einer, für sie besseren, Entscheidung

 

Weiterführende Literatur:

Bargh, John A./Gollwitzer, Peter M./Lee-Chai, Annette/Barndollar, Kimberly/Trötschel, Roman (2001). The automated will: Nonconscious activation and pursuit of behavioral goals. Journal of Personality and Social Psychology 81 (6), 1014–1027.

Buyx, Alena (2010). Können, sollen, müssen? Public Health-Politik und libertärer Paterna-lismus. Ethik in der Medizin 22 (3), 221–234.

Fuhrberg, Reinhold (2020). Verhaltensökonomie in der Verwaltungskommunikation – Der Staat als Entscheidungsarchitekt. In: Klaus Kocks/Susanne Knorre/Jan Niklas Kocks (Hg.). Öffentliche Verwaltung – Verwaltung in der Öffentlichkeit. Herausforderungen und Chancen der Kommunikation öffentlicher Institutionen, 77–101.

Grüne-Yanoff, Till/Hertwig, Ralph (2016). Nudge Versus Boost: How Coherent are Policy and Theory? Minds and Machines 26 (1-2), 149–183.

Johnson, Eric J./Shu, Suzanne B./Dellaert, Benedict G. C./Fox, Craig/Goldstein, Daniel G./Häubl, Gerald/Larrick, Richard P./Payne, John W./Peters, Ellen/Schkade, Da-vid/Wansink, Brian/Weber, Elke U. (2012). Beyond nudges: Tools of a choice archi-tecture. Marketing Letters 23 (2), 487–504.

Klonschinski, Andrea/Wündisch, Joachim (2016). Präferenzen, Wohlergehen und Rationalität Zu den begrifflichen Grundlagen des libertären Paternalismus und ihren Konsequenzen für seine Legitimierbarkeit. Zeitschrift für Praktische Philosophie 3 (1), 599–632.

Mandel N, Johnson EJ (2002) When web pages influence choice: effects of visual primes on experts and novices. J Consum Res 2(29):235–245.

Schnellenbach, Jan (2015). Die Politische Ökonomie des Entscheidungsdesigns: Kann Pa-ternalismus liberal sein? Zeitschrift für Politik 62 (1), 66–83.

Schubert, Christian (2017a). Green nudges: Do they work? Are they ethical? Ecological Economics 132, 329–342.

Sunstein CR (2015) Nudging and choice architecture: ethical considerations. SSRN Electron J.                                                                                                                                                                         

Thaler, Richard H./Sunstein, Cass R. (2003). Libertarian Paternalism. The American Eco-nomic Review 93 (2), 175–179.

Thaler, Richard H./Sunstein, Cass R. (2008). Nudge. Improving decisions about health, wealth, and happiness. New Haven, Conn., Yale Univ. Press.

Thaler RH, Sunstein CR, Balz JP (2010) Choice architecture. SSRN Electron J.

Weinmann, M., Schneider, C., & Vom Brocke, J. (2016). Digital nudging. Business & Information Systems Engineering58(6), 433-436.

 

Transparenz und Autonomie

Transparency and au2nomy        

Thaler uns Sunstein (2003) bezeichnen den liberalen Paternalismus als eine relativ schwache Form des Paternalismus. Die Autoren verfolgen mit ihrem liberal paternalistischen Ansatz das Ziel, die Entscheidungsfreiheit der Menschen nicht nur zu bewahren, sondern auch zu vergrößern und sie Menschen somit gleichzeitig zu entlasten.

Die Entscheidungsfreiheit der Menschen wird durch Nudges also keinesfalls eingeschränkt (Hausman und Welch 2010), vielmehr gewährleistet eine transparente Gestaltung der Nudges ein autonomes und selbstbestimmtes Handeln und Entscheiden. Somit stellt zum einen die Autonomie bei der Entscheidungsfindung und zum anderen die Transparenz von Nudges eine wesentliche Komponente für die Gestaltung der sog. Entscheidungsarchitektur dar (Thaler und Sunstein 2008; Schubert 2017b). Thaler und Sunstein ernennen Zweite sogar als „guiding principle“ ihres Ansatzes (2008, 244). Ferner sehen sie diese als einen Mechanismus, der dem Handeln von Entscheidungsarchitekten im Eigeninteresse entgegenwirken kann.

Hansen und Jespersen beispielsweise definieren transparente Nudges wie folgt: „[…] a nudge provided in such a way that the intention behind it, as well as the means by which behavioural change is pursued, could reasonably be expected to be transparent to the agent being nudged as a result of the intervention” (2013, 17). Nudges gelten also dann als transparent, wenn sie sichtbare visuelle (oder andere) Reize aufweisen.

Umgekehrt gelten Nudges als intransparent, sobald weder ihre Wirkungsabsicht noch Methode klar erkennbar ist (Fuhrberg 2020), oder wie Hansen und Jespersen intransparente Nudges definieren: „[…] a nudge working in a way that the citizen in the situation cannot reconstruct either the intention or the means by which behavioural change is pursued” (2013, 18). Eine derartige Intervention zur Beeinflussung der individuellen Entscheidungsfindung, die nicht transparent gestaltet ist, kann zudem als eine Einschränkung der autonomen Entscheidungsfindung ausgelegt werden (Bruns et al. 2018).

 

Weiterführende Literatur:

Bruns, Hendrik/Kantorowicz-Reznichenko, Elena/Klement, Katharina/Luistro Jonsson, Ma-rijane/Rahali, Bilel (2018). Can Nudges Be Transparent and Yet Effective? SSRN Electronic Journal 65, 41–59.

Fuhrberg, Reinhold (2020). Verhaltensökonomie in der Verwaltungskommunikation – Der Staat als Entscheidungsarchitekt. In: Klaus Kocks/Susanne Knorre/Jan Niklas Kocks (Hg.). Öffentliche Verwaltung – Verwaltung in der Öffentlichkeit. Herausforderungen und Chancen der Kommunikation öffentlicher Institutionen, 77–101.

Hansen, Pelle Guldborg/Jespersen, Andreas Maaløe (2013). Nudge and the Manipulation of Choice. European Journal of Risk Regulation 4 (1), 3–28.

Hausman, Daniel M./Welch, Brynn (2010). Debate: To Nudge or Not to Nudge. Journal of Political Philosophy 18 (1), 123–136.

Schubert, Christian (2017a). Green nudges: Do they work? Are they ethical? Ecological Economics 132, 329–342.

Thaler, Richard H./Sunstein, Cass R. (2003). Libertarian Paternalism. The American Eco-nomic Review 93 (2), 175–179.

Thaler, Richard H./Sunstein, Cass R. (2008). Nudge. Improving decisions about health, wealth, and happiness. New Haven, Conn., Yale Univ. Press.

 

Recht vs. Ethik  

2 nudge or not 2 nudge – the ethics of nudging

Nudging wurde in der Ethik schon früh länderübergreifend diskutiert. Die rechtswissenschaftliche Literatur in Deutschland widmete sich dem Thema vermehrt erst in den Jahren 2014/2015.

Das Verständnis des Begriffs „Nudging“ orientiert sich hierbei stark an Ausführungen von Thaler und Sunstein. Gleichzeitig entfachte die Diskussion um Nudging eine Diskussion um den Begriff der Autonomie aus.

Autonomie
Autonomie aus ethischer Sicht:
wird im weitesten Sinne mit der Freiheit von Personen, zu Entscheiden gleichgesetzt. In der Regel ist die Entscheidungsfreiheit an das rationale Vermögen der Person gekoppelt.

Autonomie aus rechtlicher Sicht:
Autonomie ist eine grundsätzliche Dimension menschlicher Existenz und menschlicher Freiheit, die durch alle Grundrechte geschützt wird. Unter dem Begriff der Autonomie werden unterschiedliche Fragestellungen und Themen des Rechts diskutiert (vgl. hierzu Röthel/Bumke, Autonomie im Recht, 2017).

In beiden Disziplinen gibt es eine Paternalismus-Debatte rund um das Thema Nudging, welches Thaler und Sunstein dem libertären Paternalismus zuordnen.

Paternalismus
Paternalismus aus ethischer Sicht:
Die Ethik kann die Liberalismus-Komponente im libertären Paternalismus dabei eher als einen Fortschritt gegenüber dem klassischen Paternalismus würdigen.
Paternalismus aus rechtlicher Sicht:
die Rechtswissenschaft tut sich mit diesem „Mischkonzept“ etwas schwerer. Die Frage nach der Notwendigkeit einer Rechtfertigung für den Einsatz eines Nudges ist ohne die Einordnung als entweder paternalistisch oder libertär aus rechtswissenschaftlicher Sicht schwer zu beantworten.

Bei Nudging in der Arbeitswelt wird zwischen privaten und staatlichen Entscheidungsarchitekten unterschieden. Nudges durch Arbeitgeber*innen bisher deutlich weniger diskutiert als Nudges durch den Staat.

Nudging in der Arbeitswelt
Aus ethischer Sicht:
Ethische Einwände gewinnen an Triftigkeit, sobald Nudging außerhalb des staatlichen Paternalismus diskutiert wird.
Aus rechtlicher Sicht:
Arbeitgeber*innen können aus rechtlicher Sicht, als Private Akteure, zunächst mehr Freiheit genießen.

Digitale Technologien ermöglichen es, Nudges auf das Persönlichkeitsprofil einzelner Personen zuzuschneiden. Dieses Vorgehen wird unter dem Begriff „Hypernudges“ diskutiert. Diese Hypernudges sind sowohl aus ethischer als auch aus rechtlicher Perspektive problematisch.

Nach einem Vergleich dieser zentralen Elemente in der Diskussion um Nudging innerhalb der beiden Disziplinen lassen sich vor allem zwei generelle Maßnahmen identifizieren, um Gefahren vorzubeugen und Manipulation durch Nudging zu verhindern.

Zusammenfassend lässt sich festhalten:

  • Nudges müssen transparent sein!

Dies ergibt sich sowohl aus ethischen Erwägungen als auch aus dem Grundsatz der „Rechtmäßigkeit, Verarbeitung nach Treu und Glauben, Transparenz“ des Art. 5 Abs. 1 lit. a DSGVO für alle Fälle, in welchen die DSGVO anwendbar ist.

 

  • Nudges müssen Personen respektieren!

Nudges müssen außerdem die Person als solche respektieren, ohne sie zu infantilisieren. Erwachsene müssen also eine reale Chance haben, noch selbstständig eine Entscheidung treffen zu können. Dies wird rechtlich u.a. durch das allgemeine Persönlichkeitsrecht und im Online Bereich teilweise auch durch das Recht auf informationelle Selbstbestimmung gestützt.